Editorial 2024 | 4 – Jugendverbandsarbeit in Zeiten schwieriger gesellschaftlicher Herausforderungen
Liebe Mitglieder und Freunde,
Wir leben in verstörenden Zeiten. Wenn von „Jugendbewegung“ die Rede war, dann dachte man vor Kurzem noch an „Fridays for Future“, „HipHop“ „Friedensinitiativen“ oder ähnliches.
Und jetzt? 38% der 18-24Jährigen haben in Thüringen die AfD gewählt –in Sachsen immerhin noch 31%. Ähnlich in Brandenburg. Die etablierten Parteien, einschl. der Grünen, verlieren in einem Großteil der Jugend dramatisch an Zustimmung.
Warum ist das so? Schulleiter, Politiker, Eltern und Erzieher sind ziemlich ratlos. Es hat sich unkontrolliert eine rechtsextreme Parallelwelt gebildet, bestehend aus Rapmusik, Comics, Bücher, Podcasts, Onlinespiele und Rechtsrockbands. Und das scheint „anzukommen“. In den „sozialen“ Medien wird gehetzt, dort ist es besonders leicht. Man braucht keinen direkten Widerspruch zu fürchten, man kann sich der differenzierten Argumentation und der persönlichen Auseinandersetzung einfach in seiner Blase entziehen.
Die Jugendforschung sucht nach den Ursachen. Sind es die persönliche Unsicherheit, gefühlte Wohlstandsgefährdung, Zukunftsängste? Sind es die schlechten Berufsperspektiven für junge Leute ohne Abschluss und Ausbildung? Aber reicht das als Erklärung? Denn der Rechtstrend geht auch in die abgesicherte soziale Mitte hinein. Klar ist, die AfD bringt sich sehr geschickt über die Medien, nicht zuletzt durch TicTocin, ins Spiel. Der Tenor ist immer der gleiche: Die Politik vertritt die Eliten und die wollen uns alles wegnehmen. Das Schnitzel durch die Ernährungspolitik, den schönen Verbrenner durch die Klimapolitik, die Sicherheit durch die Außenpolitik und den Wohlstand durch die Migranten.
Einfachste Erklärungsmuster treffen auf eine irgendwie geartete Unzufriedenheit. Die kann durchaus begründete Ursachen haben: Inflation, Wohnungsmangel, Klimawandel und Überschwemmungen, Ukrainekrieg, Überforderung der sozialen Sicherungssystem, mangelhafte Infrastruktur – alles Probleme, mit denen sich die Politik extrem schwer tut. Aber statt seine persönliche Situation einmal vorurteilsfrei abzuklopfen, nach den eigentlichen Ursachen zu fragen, nicht alles durcheinanderzumischen und nach sinnhaften, praktikablen Lösungen zu suchen, sucht man einen abgeschotteten Raum Gleichgesinnter, in dem man sich gegenseitig in seinen Frustrationen und Vorurteilen beweihräuchert und hochschaukelt. Das Gefühl der Stärke wächst in einer geschlossenen Gruppe, die sich gegen das „Böse“ da draußen zur Wehr setzt und sich legitimiert fühlt, auch sexistische, rassistische und sonstige gewalttätige Aktionen auszuüben. Das Adrenalin wird, schlicht gesagt, in einer falschen Richtung kanalisiert.
Es ist eine Binsenweisheit: Wer aus einem sozial schwierigen Umfeld kommt, in dem emotionale Zuneigung ein Fremdwort ist, hat eine größere Wahrscheinlichkeit, in einem radikalen Umfeld zu landen, als Kinder und Jugendliche aus stabilen, zugewandten und warmherzigen Verhältnissen. Man sucht und findet Halt in einer Gruppe mit ähnlichen Biographien, wobei die Inhalte oft zweitrangig sind. Wichtiger ist, das eigene Selbstwertgefühl zu steigern. Und wie tut man das? Indem man andere abwertet, sie als minderwertig abtut und möglichst in Freund-Feind-Kategorien denkt und handelt. Das zeugt von Stärke. Und da sind wir schon beim Trend zum Rassismus.
Wir reden hier nicht vom institutionalisierten Rassismus. Der muss politisch, juristisch, gesellschaftlich, medial bekämpft werden. Auch nicht vom radikalen Überzeugungstäter. Da kommt man mit zivilisierten Argumenten und Angeboten meistens nicht weiter. Wir reden von ganz „normalen“ Jugendlichen, die in die rechte Ecke abdriften. Und was wir dagegen tun können. Wir, das sind die Mitglieder und Mitarbeiter der Jugendverbände.
So wichtig Aufklärungsarbeit, Wissensvermittlung und politische Bildung auch sind – mit theoretischen, kopflastigen Ansätzen kommen wir da nicht weiter. Viel wichtiger ist die emotionale Ebene, und die können wir erreichen durch Aktivitäten in Gemeinschaft und durch gemeinsame positive Erlebnisse, so bescheiden sie auch sein mögen. Es ist ja ein interessantes Phänomen, dass gerade dort, wo wenige Leute mit Migrationshintergrund leben, die Ausländerfeindlichkeit besonders ausgeprägt ist. Man kennt eben Muslime und Leute mit dunkler Hautfarbe nur aus den Nachrichten oder sozialen Medien – und die bringen bekannterweise meist nur die negativen Nachrichten. Wäre es nicht an der Zeit, auch mal das Positive zu betonen? Wo überall gibt es tolle Gruppen, die sich politisch, sozial, kulturell, ökologisch engagieren – über alle Herkunftsländer, Sprachen, Hautfarben und kulturellen Gewohnheit hinweg. Und wie häufig passiert es, das junge Leute, die etwas zusammen erleben und unternehmen voneinander profitieren – wo immer sie auch herkommen. Wenn man das in den Medien mal mehr betonen würde, dann könnte man schon etwas mehr für die Demokratie bewegen.
Ja – und genau deshalb ist es uns von der AGIJ so wichtig, bei unseren Aktivtäten Leute ganz unterschiedlicher Herkunft zusammen zu bringen. Alle unsere Angebote sind eben auch offen für deutsche Jugendliche und alle anderen Nationalitäten. Wir erleben tagtäglich wie junge Leute sich gegenseitig unterstützen, sich Tipps und Infos am Computer geben, sich bei den Schularbeiten helfen und gemeinsam Sport treiben. Das alles sind ganz kleine Schritte, aber wenn das Schule macht, und junge Leute, die mit Migranten sonst nicht zu tun haben, sich über gemeinsame Erlebnisse öffnen und lernen, eine andere Perspektive einzunehmen, dann haben wir schon Einiges erreicht. Und übrigens: Jugendliche, die zunächst vielleicht eine gewisse Distanz zu Gleichaltrigen aus anderen Ländern haben, tragen ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle weiter in ihre Peer-Groups und wirken so – bewusst oder unbewusst – als emotionale Multiplikatoren.
Wir werden jedenfalls mit unseren Angeboten an Alle so weitermachen wie bisher und haben auch für das letzte Quartal dieses Jahres eine Menge toller Aktivitäten im Angebot. Besonders erwähnen möchten wir an dieser Stelle die großen Fortschritte in unserem Projekt „Schule – und was nun?“. Viele neue Mentorinnen und Mentoren ganz unterschiedlicher Herkunft und Bildungsgänge haben sich eingefunden, um andere junge Leute auf ihrem Weg von der Schule in Ausbildung und Beruf mit Rat und Tat zu begleiten. Wir werden über die Fortschritte in diesem Projekt demnächst berichten.
Für heute verabschiede ich mich und wünsche Euch viel Spaß und Freude bei eurer kreativen und immer wieder aufregenden Jugendarbeit und natürlich auch bei unseren gemeinsamen Aktivitäten in der AGIJ. Schaut einfach hier auf der Website in die Rubriken „Gruppen & Kurse“ und „Workshops & Veranstaltungen“.
Bis bald, bei einer der zahlreichen Aktivitäten oder im AGIJ-Büro.
Herzlichst – Eure Gabriela (1. Vorsitzende)
Hamburg, 01. Oktober 2024